Ordnung im Gefühlswirrwarr, Teil 4: primäre und sekundäre Emotionen

Eine wichtige Unterscheidung ist die zwischen primären und sekundären Emotionen. Diese Begriffe werden je nach Autor und Quelle unterschiedlich gebraucht, hier die Bedeutung, wie sie in der Verhaltenstherapie üblich ist: Die primäre Emotion ist das Gefühl, welches spontan und adäquat auf einen Auslöser hin auftritt. Es basiert auf einem wichtigen Bedürfnis und löst einen sofortigen Handlungsimpuls aus. Bei uns Menschen beginnt aber mit der Geburt (oder auch schon vorher) das Lernen: Wir machen Erfahrungen, wie unsere Umwelt auf unsere Emotionen bzw. unser Verhalten reagiert hat, können dadurch zunehmend besser antizipieren, was unser Verhalten bei unserem Gegenüber auslöst und wie er sich daraufhin verhalten wird, und es entsteht ein komplexes System aus externen und internen Regeln. Diese oftmals in Sekundenbruchteilen ablaufende Bewertung kann eine sekundäre Emotion auslösen, mit welcher die primäre Emotion reguliert wird, hier nochmal dargestellt:

primäre und sekundäre Emotionen

Ein Beispiel, um dies zu veranschaulichen: Jemand rempelt mich heftig an. Primäres Gefühl ist Ärger, der Impuls wäre, mich zu beschweren. Ich habe aber gelernt, dass Ärger gefährlich ist, der andere könnte dann ebenfalls ärgerlich werden und mich bedrohen (Angst), es könnte eine laute Szene geben, andere könnten aufmerksam werden (Scham), und vielleicht habe ich ja am Ende selber nicht aufgepasst (Schuldgefühle). Alle diese sekundären Emotionen regulieren meinen ursprünglichen Ärger, so dass ich am Ende nur freundlich lächle und sage, „alles okay, ist nichts passiert“. Hinterher ärgere ich mich über mich selbst und kritisiere mich, dass ich mich nicht zur Wehr gesetzt habe, so ängstlich war und so wenig Selbstbewusstsein habe. Am Abend bin ich traurig und ziehe mich zurück.

An dem Beispiel kann man mehreres erkennen:

  • Es kann nicht nur eine, sogar mehrere sekundäre Emotionen geben bis hin zu ganzen „Emotions-Ketten“
  • Handlungsleitend wird immer die letzte Emotion (2). Dadurch wird aber das ursprüngliche Bedürfnis (1) nicht erfüllt und bleibt unbefriedigt.
  • Primäre Emotionen sind „natürlich“, erfüllen eine Zweck und dauern so lange, bis die Situation vorbei ist. Sekundäre Emotionen sind „konstruiert“, dienen der Regulation von Beziehungen und unserem Innenleben und können deutlich länger anhalten.
  • Das ganze kann unbewusst ablaufen, aber auch halb-bewusst. Diese erlernten Muster können so automatisch ablaufen und verinnerlicht sein, dass manche Menschen die primäre Emotion überhaupt nicht mehr wahrnehmen und z.B. anstatt mit Ärger immer sofort mit Schuldgefühlen reagieren. Dadurch bleiben Grundbedürfnisse dauerhaft unbefriedigt, was den Selbstwert untergräbt und zu Frustration und Depression führen kann.