Psychotherapie: morgens oder abends einnehmen?

Das Leben ist gekennzeichnet durch Rhythmen und Zyklen – Jahreszeiten, Mondphasenzyklus, Tag-Nacht-Rhtyhmus. Der Mensch hat sich an diese äußeren Zeitgeber angepasst, aber auch zahlreiche eigene Rhythmen. Es gibt lange Perioden (z-B. bei Frauen: Menarche – Menstruationszyklus – Menopause), Tagesrhythmen (z.B. Cortisol- oder Melatoninspiegel), kurze Rhythmen wie Atmung und Herzschlag und noch kürzere wie z.B. die mittles EEG messbare elektrische Hirnaktivität. Interessant ist, dass „gesunde“ Rhythmen zwar eine typische Form aufweisen, aber immer auch eine Variabilität haben. So schlägt z.B. das Herz zwar regelmäßig, in einem gesunden Organismus ist die Herzfrequenz jedoch andauernden Schwankungen unterworfen (sogenannte Herzratenvariabilität). Diese sind Ausdruck der Anpassungsfähigkeit an Belastung und Entspannung. Unter chronischer Stressbelastung nimmt diese Herzratenvariabilität ab, ein messbarer Ausdruck dessen, dass sowohl die Belastbarkeit als auch die Entspannungsfähigkeit des Organismus reduziert ist.

Auch psychisch zeigt sich diese verminderte Variabilität als reduzierte „Schwingungsfähigkeit“. Diese bezeichnet die emotionale Modulationsfähigkeit, die sich normalerweise an die aktuelle Situation anpasst und sich in Mimik, Gestik, Stimme und Psychomotorik zeigt. Bei einer Depression ist diese Schwingungsfähigkeit, ähnlich wie die Herzratenvariabilität, reduziert, bis hin zu einer Affektstarre, d.h. der Betroffene reagiert überhaupt nicht mehr auf die äußere Umgebung und bleibt in der immer gleichen Stimmung.

Bei vielen Medikamenten werden die bekannten (Tages-)Rhythmen berücksichtigt und der Einnahmezeitpunkt entsprechend angepasst, damit das Medikament besser wirkt oder weniger Nebenwirkungen hat. Es ist z.B. bekannt, dass Chemotherapeutika je nach Einnahmezeit stärker oder schwächer wirken, weil auch die Zellteilung und das Immunsystem eine circadiane Rhythmik haben. Cortison-Präparate sollen üblicherweise morgens eingenommen werden, weil hier physiologischerweise die höchsten Spiegel sind und die Nebenwirkungen geringer. Auch Antidepressiva werden je nach Wirkstoffgruppe morgens oder abends eingenommen.

Interessanterweise ist mir aber keine Studie bekannt, die untersucht hat, ob auch die Wirksamkeit von Psychotherapie sich je nach Tageszeit unterscheidet. Dabei gibt es auch bei psychischen Krankheiten ganz typische Rhythmen, so z.B. das klassische „Morgentief“ bei einer Depression: Bei den meisten depressiven Menschen ist die Stimmung in den frühen Morgenstunden besonders schlecht und bessert sich im Verlauf des Tages. Meine persönliche Erfahrung ist, dass Psychotherapiestunden sehr unterschiedlich verlaufen können, je nachdem, ob sie am frühen Vormittag oder späten Nachmittag stattfinden. Das mag an äußeren Faktoren liegen (in der ambulanten Therapie, ob jemand vor oder nach der Arbeit zur Therapie geht), ich vermute aber, dass hier ebenfalls physiologische Rhythmen eine Rolle spielen. Falls jemand eine Untersuchung dazu kennt, freue ich mich über Hinweise!

Einen schönen Überblick über die „Zeitphänomene“ bietet übrigens das Jahrbuch der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Psychosoziale Onkologie e.V. von 2005:

„Zeitwahrnehmung und Zeitperspektiven in der Psychoonkologie“