Somatisierung und Somatisierungsstörung

„Somatisierung beschreibt die Neigung, körperliches Unwohlsein und Symptome, die nicht auf krankhafte somatische Befunde zurückzuführen sind, trotzdem körperlichen Erkrankungen zuzuschreiben und eine Körper-medizinische Behandlung dafür anzustreben. Es wird angenommen, dass diese Neigung häufig eine Reaktion auf psychosoziale Belastungen ist.“

Diese Definition von Wikipedia ist die fast wörtliche Übersetzung des Einleitungssatzes des bereits 1988 erschienen Grundlagenartikels „Somatization: The Concept and Ist Clinical Application“ (Z.J.Lipowski, Am J Psychiatry. 1988 Nov;145(11):1358-68). Darin wird – und das halte ich für extrem wichtig – unterschieden zwischen Somatisierung und Somatisierungsstörung, was manchmal fälschlicherweise gleichgesetzt wird. Somatisierung ist ein Ausdruck dessen, was Körpertherapeuten immer schon wussten und aktuell unter dem Begriff Embodiment neu in den Fokus gerückt ist, nämlich des unauflösbaren Zusammenhangs zwischen Körper und Psyche. Psychische Prozesse, vor allem wenn sie eine gewisse Intensität haben, schlagen sich fast immer auch in körperlichen Veränderungen nieder, bei dem einen mehr und bei dem anderen weniger. Dem einen ist vor einer Prüfung ein bisschen flau im Bauch, der andere hat seit zwei Tagen Durchfall, Kopfschmerzen und kann nicht mehr schlafen. Auch letzteres ist noch kein Problem, solange einem der Zusammenhang bewusst ist und man trotzdem die Prüfung absolvieren kann. Den meisten Menschen ist dieser Zusammenhang zwischen Stress und körperlichen Reaktionen geläufig und per se kein Grund zu Sorge. Zu einer Somatisierungsstörung wird es, wenn die körperlichen Symptome als Ursache von Stress wahrgenommen werden, der umgekehrte Weg aber nicht mehr bewusst ist bzw. es nicht mehr gelingt, aus diesem Teufelskreis auszusteigen. Ich habe versucht, das in dieser Grafik zu veranschaulichen:

Die in der Grafik beschrieben Prozesse entsprechen der Definition bzw. den Kriterien der Somatic Symptom Disorder in DSM-5. Aus diesem Modell ergeben sich die zentralen Ansatzpunkte einer Therapie, nämlich

  • ein Verschieben der Aufmerksamkeit weg von den körperlichen Beschwerden hin zu psychosozialen Stressoren (in diesem Zusammenhang v.a. Beziehungsgestaltung und Emotionsregulation)
  • eine Bearbeitung dysfunktionaler Gedanken bzgl. der körperlichen Symptome
  • ein Veränderung des Krankheits- bzw. Gesundheitsverhaltens und der Inanspruchnahme medizinischer Diagnostik und Therapie.

Kurz zusammengefasst: Die Behandlung einer Somatisierungsstörung bedeutet, die Somatisierung bewusst zu machen. Nur dann ist für den Patienten nicht mehr der Arzt für die Behandlung der körperlichen Beschwerden entscheidend, sondern der Therapeut für die Unterstützung bei der Stressreduktion.