Ordnung im Gefühlswirrwarr, Teil 5: Scham und Schuld

Zu Scham und Schuldgefühlen gibt es zahlreiche Theorien. Hier die meines Erachtens wichtigen Aspekte und Gemeinsamkeiten:

  • Beides sind „soziale Emotionen“, d.h. sie regulieren das Zusammenleben und sind dafür notwendig.
  • Beides sind erlernte Emotionen, sie basieren auf einem verinnerlichten System an Regeln und Normen und sind daher kulturell sehr unterschiedlich ausgeprägt.
  • Auslöser ist bei beiden der Verstoß gegen Regeln, Gebote/Verbote oder Verpflichtungen (persönlich oder gesellschaftlich).
  • Das dahinterstehende Bedürfnis ist „Zugehörigkeit“, beide enthalten die Angst vor dem Ausgestoßenwerden und dem Verlust von Bindung/Beziehung.
  • Beide sind sehr unangenehm, was ein Hinweis darauf ist, dass wir Menschen soziale Wesen sind und wie wichtig Zugehörigkeit ist.
  • Beide haben eine wichtige kommunikative Funktion: Das Zeigen von Scham und Schuld (bewusst oder unbewusst) macht deutlich, dass man weiß, dass man etwas falsch gemacht hat und die Regeln kennt.

Wichtige Unterschiede:

  • Bei Schuld habe ich nicht nur eine sozial unerwünschte Handlung begangen, sondern damit einem anderen auch Schaden zugefügt
  • Schuld bezieht sich auf ein Verhalten: Ich habe etwas Falsches getan.
  • Scham bezieht sich auf die gesamte Person: Ich bin nicht in Ordnung, mit mir als Mensch stimmt etwas nicht. Daher „brennen“ sich Situationen, in denen wir uns sehr schämen/uns etwas sehr peinlich ist, oft stark in unser Gedächtnis ein und können traumatischen Charakter haben.
  • sehr gut und anschaulich finde ich die psychoanalytische Unterscheidung:
    Scham = Spannung/Diskrepanz/Konflikt zwischen Ich und Ich-Ideal
    Schuld = Spannung/Diskrepanz/Konflikt zwischen Ich und Über-Ich

Was tun bei Schuldgefühlen?

Es mag im ersten Moment irritieren, aber es ist wichtig, Schuld und Schuldgefühl zu unterscheiden. Die entscheidende erste Frage lautet daher: Habe ich Schuld auf mich geladen? Diese Frage muss ich für mich vor meinem eigenen Wertesystem beantworten, sie hat nichts mit dem Rechtssystem zu tun. Ich kann in juristischem Sinne schuldig sein, aber keinerlei Schuldgefühle haben. Umgekehrt kann ich starke Schuldgefühle haben, obwohl ich juristisch nichts Falsches getan habe.

In der Theorie einfach ist es, wenn ich diese Frage für mich mit „Ja“ beantworte. Dann ist nämlich normalerweise klar, was zu tun ist: Um Ent-schuldigung bitten. (Umgangssprachlich sagen wir oft „sich entschuldigen“, was streng genommen nicht geht. Nur der andere kann mich Ent-schuldigen, d.h. mir verzeihen/vergeben.) Zusätzlich kann eine Wiedergutmachung der Schadens angeboten und/oder gefordert werden. Am Ende gibt es vier Möglichkeiten:

  1. Der andere verzeiht mir und ich mir auch → gut für beide und die Beziehung
  2. Der andere verzeiht mir, ich mir aber nicht → gut für die Beziehung, schlecht für mich
  3. Ich verzeihe mir, der andere aber nicht → gut für mich, schlecht für die Beziehung
  4. Ich verzeihe mir nicht und der andere auch nicht → schlecht für beide und die Beziehung

In der Psychotherapie nicht selten ist der Fall, dass Menschen sich selbst nicht verzeihen können und deshalb dauerhaft Schuldgefühle mit sich tragen. Die Fähigkeit, sich selbst verzeihen zu können, hat viel mit psychischer Gesundheit zu tun. Selbst-Akzeptanz und Selbst-Mitgefühl wären hier therapeutische Schlagworte.

Schwieriger und ebenfalls nicht selten ist der Fall 2, dass nämlich die Frage nach der Schuld mit „Nein“ beantwortet wird: Jemand hat Schuldgefühle, obwohl er objektiv keine Schuld auf sich geladen, d.h. niemandem einen Schaden zugefügt hat. Mögliche Erklärungen hierfür:

  • Es handelt sich um eine „alte“ Schuld, die reaktiviert wurde und wo der Schritt des um-Entschuldigung-Bittens oder des Sich-Selbst-Verzeihens noch aussteht .
  • Das Schuldgefühl bezieht sich nicht auf eine aktuelle, reale Person, sondern auf eine verinnerlichte Beziehung („Introjekt“), der gegenüber man Schuld empfindet.
    Ein Beispiel: Jemand hatte eine Mutter, die sehr streng war und Süßigkeiten als „böses Zuckerzeug“ abgelehnt hat. Jetzt tauchen jedesmal, wenn diese Person ein Stück Schokolade isst, Schuldgefühle auf gegenüber der Mutter, so als ob diese immer noch drohend oder strafend anwesend wäre (psychoanalytisch das „Über-Ich“).
  • Es handelt sich um eine sekundäre Emotion, die ein anderes (primäres) Gefühl verdeckt (siehe letzter Blog-Eintrag).

Dieses etwas schematische Darstellung ist sicher vereinfachend, meiner Erfahrung nach aber sehr hilfreich im Umgang mit Menschen, die häufig unter Schuldgefühlen leiden. Hier noch mal zusammengefasst: